Die Heiligenstädter Palmsonntagsprozession
„(…) um aus unsren Fenstern die Feierlichkeit mit anzusehen“ – der Heiligenstädter Palmsonntag in den Augen des Kirchenkritikers Storm und in seiner Erzählung Veronica
Ein Beitrag von Philipp Bert
„Die katholische Kirche feiert jetzt in nächtlichen Processionen unter Fackelbeleuchtung ihre heidnisch christlichen Frühlingsfeste“, stellte Storm am 6. April 1860 in einem Brief an seine Eltern lapidar fest – mit spürbarer Distanz zu den religiösen Festlichkeiten um Ostern, die in Heiligenstadt bis in die Gegenwart Großereignisse sind.
Über die Palmsonntagsumzüge äußerte er sich bereits zwei Jahre zuvor, am 28. März 1858, im Briefwechsel mit seinen Eltern:
Lieber Vater,
Es ist Palmsonntag heute, die schönste Frühlingssonne scheint in unsre Fenster, Wagen und Menschen strömen in die Stadt; denn es ist heute die große Osterprocession, wo sie das ganze Leiden Christi durch die Stadt tragen. Wir hatten Otto auf heut Mittag geladen, um aus unsern Fenstern die Feierlichkeit mit anzusehen, aber eben erschien er und verkündete, daß er, da Rudnick und Josephe mitprocessieren, doch zu Hause bleiben müsse.
Theodor Storm beobachtete das Geschehen also lieber als unbeteiligter Zuschauer aus dem Fenster. Wenige Stunden später, nach der Prozession, setzte er den Brief an seine Eltern fort und berichtete:
Ein prachtvoller Frühlingstag, tausende von Menschen, geputzten Landleuten erfüllen die Stadt, die Kinder laufen mit geweihten Taxuszweigen.
Nach den Aussagen im Brief zu schließen, hatte Storm Freude am herrlichen Wetter und den Schauwerten des Umzugs, doch die religiöse Dimension ließ ihn unbeeindruckt. Während im 19. Jahrhundert in vielen Gegenden Deutschlands und gerade im Eichsfeld noch eine tiefe Volksgläubigkeit herrschte, wandte sich ein Teil des Bürgertums im 19. Jahrhundert eher religionskritischen, teils materialistischen Weltanschauungen zu. Das traf auch auf den getauften Protestanten Theodor Storm zu. Bereits bei seiner Heirat mit Constanze im Jahr 1846 lehnte er eine kirchliche Hochzeit ab. Auch später suchte er die Kirche nur selten auf, und ein Leben nach dem Tod erschien ihm unwahrscheinlich.
Doch ganz ohne Faszination muss er das katholische Treiben im Eichsfeld nicht betrachtet haben. Mehrere seiner Heiligenstädter Werke, wie die Erzählung Veronica (1861) oder die Novelle Im Schloß (1862), zeugen von einer Auseinandersetzung mit religiösen Themen, die vielleicht auch durch die Frömmigkeit der Eichsfelder ausgelöst wurde. Veronica und Im Schloß greifen anhand ihrer in der Kindheit streng religiös erzogenen Protagonistinnen die Glaubensthematik auf – um aber dann kirchen- und religionskritische Ansätze zu verfolgen. In beiden Werken befreien sich die Protagonistinnen von blind anerzogener Gläubigkeit.
Veronica erzählt von der vorösterlichen Zeit in einer sehr katholischen Region, die ohne direkte namentliche Nennung unschwer als das Eichsfeld zu erkennen ist. Veronica hat am Tag vor Palmsonntag ein kurzes erotisches Erlebnis mit dem Cousin ihres Ehemannes. Sie halten für kurze Zeit Händchen und tauschen tiefe, bedeutungsschwere Blicke aus. Weiter scheint nichts zwischen ihnen zu passieren, doch im 19. Jahrhundert könnte es wie bei „Effi Briest“ oder „Anna Karenina“ enden, und auf der streng katholisch erzogenen Veronica lastet der Gedanke an Sünde und Hölle.
Im nächsten Kapitel – ein Tag nach Veronicas Erlebnis – folgt der Palmsonntagsumzug, von Storms Erzähler in monumentaler Weise beschrieben, aber nicht ohne seine eigene protestantische Zuschauerperspektive außer Acht zu lassen:
Die Straßen wimmelten von Landleuten aus den benachbarten Dörfern. Im Sonnenschein vor den Türen der Läufer standen hier und da die Kinder der protestantischen Einwohner und blickten hinab nach dem offenen Tor der katholischen Kirche. Es war der Tag der großen Osterprozession. – Und jetzt läuteten die Glocken, und der Zug wurde unter der gotischen Torwölbung sichtbar und quoll auf die Gasse hinaus. Voran die Waisenknaben mit ihren schwarzen Kreuzchen in den Händen, nach ihnen die barmherzigen Schwestern in den weißen Schleierkappen, dann die verschiedenen städtischen Schulen und endlich der ganze unabsehbare Zug von Landleuten und Städtern, Männern und Weibern, von Kindern und Greisen; alle singend, betend, mit ihren besten Kleidern angeputzt, Männer und Knaben barhäuptig, die Mützen in den Händen haltend. Darüber her in gemessenen Zwischenräumen, auf den Schultern getragen, ragten die kolossalen Kirchenbilder: Christus am Ölberge, Christus von den Knechten verspottet, in der Mitte hoch über allen das ungeheure Kruzifix, zuletzt das Heilige Grab.
Weiter erfährt man von Storms Erzähler, dass die Frauen „dieser Stadt“ an der Feierlichkeit nicht teilnahmen. Veronica, noch immer von Schuldgefühlen geplagt, hört den Umzug aus ihrem Schlafgemach heraus näherkommen:
Als das Getöse des nahenden Zuges ihr Ohr erreichte, hob sie den Kopf empor und lauschte. Immer deutlicher kam es heran, das dumpfe Geräusch der Schritte, das singende eintönige Murmeln der Gebete. – »Heilige Maria, Mutter der Gnaden!« erscholl es vor dem Fenster, und von hinten aus dem Zuge kam es gedämpft zurück: »Bitte für uns arme Sünder jetzund und in der Stunde des Todes!«
Die Eindrücke der Prozession und der Rosenkranz wirken tief auf Veronica ein, sie erleidet einen Nervenzusammenbruch. Wie in vielen anderen Ehebrecher-Geschichten des 19. Jahrhunderts scheint ein unglückliches Ende für Veronica wahrscheinlich.
Doch da ist Veronicas Ehemann, ein Justizrat. Er geht nicht zur Kirche und kann im Christentum kein Wunder erkennen, sondern nur ganz prosaisch „ein natürliches Ergebnis aus der geistigen Entwicklung der Menschheit“. Beruf und religiöse Ansichten des Ehemannes zeigen Ähnlichkeiten mit denen Storms, sodass man geneigt ist, ein Selbstporträt in Veronicas Ehemann zu sehen. In Veronica hilft dieser kirchenferne Ehemann, seine Frau von der Kirchenhörigkeit zu lösen, wenn auch langsam, behutsam und verständnisvoll.
Kurz nach Ostern möchte Veronica ihren Fehltritt mit dem Cousin, einem als stiernackig beschriebenen Geistlichen, beichten, findet aber keine Worte und flüchtet aus der Kirche. Plötzlich nimmt sie die frühlingshafte Welt mit anderen Augen wahr, geht durch die Straßen der Stadt, und emanzipiert sich von der Kirche:
Ein schmerzlicher Zug stahl sich um ihren Mund, aber er verschwand wieder. Sie richtete sich auf; ein Entschluß stand fest und klar in ihrer Seele.
Nicht eine Beichte gegenüber einem Geistlichen, sondern das Geständnis gegenüber ihrem verständnisvollen Ehemann löst am Schluss der Novelle den Konflikt. Statt Religion sind Liebe und vertrauensvolle Partnerschaft für Storm das Entscheidende. Folglich lauten die letzten Zeilen von Veronica, in denen ihr Ehemann Veronica verständnisvoll verzeiht:
„Sie regte sich nicht; aber ihr Mund begann zu sprechen; und während seine Augen an ihren Lippen hingen, fühlte sie es, wie seine Arme immer fester sie umschlossen.“
Storm siedelt seine Geschichte der religiösen Selbstbefreiung bewusst in der Zeit von Palmsonntag bis Ostern an, in der die Bedeutung und der große Einfluss der katholischen Kirche im Eichsfeld des 19. Jahrhunderts wohl am anschaulichsten gewesen sein muss.