Zur Chronik von Grieshuus – Von Wölfen und schlimmen Tagen (2/2)
Im zweiten Teil fahren wir nun fort mit der Wanderung und der daran anschließenden Entdeckung von dem ,ersten Chronisten‘ von Grieshuus am besagten Oktobernachmittag.
Die Entdeckung der Turmruine sowie die gedankliche Nachzeichnung des Grundrisses von dem verwaisten und mittlerweile gänzlich zerfallenen Herrenhaus Grieshuus, die der Student tätigt, bilden den Höhepunkt dieser schaurig zwiespältigen Sphärenwanderung: Die Dämmerung tritt rasch ein, schwarzviolette Wolken ziehen auf, die den Himmel verdunkeln, und durch die Krüppeleichen – klägliche Überreste des einst stolzen Eichenwaldes – saust der Wind. Trotz der einnehmenden Dunkelheit rings um ihn herum muss der Student ,,noch nähere Zeichen aufzuspüren“, er fühlt sich getrieben von dem Verlangen danach. Schließlich findet er alles noch von Grieshuus räumlich Verbliebene.
Wie aus einem Bann gelöst ruft er daraufhin laut aus: »Grieshuus!« (…) »Hier hat Grieshuus gestanden!« Bevor er seine Entdeckung jedoch beim Ablaufen des Grundrisses genau bildlich erfassen kann, hält er inne, als ob ihn erneut eine fremdbestimmende Kraft ergriffen habe:
,, (…) ein Wort war plötzlich in mir laut geworden: »Die schlimmen Tage!« Wenn eben jetzt die schlimmen Tage wären! – Unwillkürlich hielt es mich zurück: ein Aberglaube schwebte über dieser Heide, der letzte Schatten eines düsteren Menschenschicksals, womit ein altes Geschlecht von der Erde verschwunden war. Es sollte eine Zeit im Jahre geben oder einst gegeben haben, wo dem, welcher nach Sonnenuntergang dies Tal durchschritt, etwas Furchtbares widerfuhr, das die Kraft seines Lebens abstumpfte, wenn nicht gar völlig austat.“
,,Die schlimmen Tage“ etablieren sich als eines der zentralen Elemente einer vorchristlich-mythischen Motivik, wie sie zwar per se nicht untypisch für Storms Gesamtwerk ist, aber besonders prägnant in ,,Zur Chronik von Grieshuus“ hervorsticht. Obwohl der Student es als ,,Zufall“ betitelt, dass er die räumlichen Überbleibsel des Herrenhauses an dem besagten Oktobernachmittag auffindet und er ,,die schlimmen Tage“ als ,,Aberglauben“ bezeichnet, werden immer wieder die real greifbaren Auswirkungen einer sich scheinbar gänzlich der menschlichen Vernunft entziehenden Wirkkraft deutlich spürbar gemacht. Auch wenn ,,die schlimmen Tage“ nicht im Oktober stattfinden, erscheint auffällig, dass der Student seine merkwürdige Wanderung während dem Herbst, also der Übergangszeit hin zum Jahresende, und speziell im Monat Oktober unternimmt. Denn am 31. diesen Monats endet der Jahreszyklus zum Beispiel nach der keltischen Mythologie mit dem Fest ,Samhain‘. Während ,Samhain‘ sollen die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits spürbar verwischen. Auf ,Samhain‘ geht ursprünglich das heute bekannte Fest ,Halloween‘ zurück.
Sowohl die Junker selbst als auch der Untergang ihrer Dynastie sind innerhalb des Werks mit stark mystischen (Vor-)Zeichen aufgeladen, worunter auch stetig angsterfüllte Vorahnung und verhängnisvolle Konsequenz ,,der schlimmen Tage“ auftauchen. Zeitlich sind diese bestimmten Tage im Übrigen zwischen dem 23. und 25. Januar platziert. Das ihnen zugeschriebene Unheil, was grundlegend mit der Macht des unerwartet und grausam um sich greifenden Todes verknüpft wird, überschneidet sich zum Beispiel mit den individuellen Geburts- und Todeszeiten der Familienmitglieder.
Zwar wird Hinrich als Wildhüter zunächst von ,,den schlimmen Tagen“ verschont, weil er bei seiner Rückkehr auf ein eigenes Quartier hinter den Mauern des Herrnhauses besteht. Aber an seinem endgültigen Schicksal während ,,der schlimmen Tage“ einige Jahre später – in derselben Nacht wie auch Rolf stirbt – vermögen vorherige Warnungen nichts zu ändern. Hinrich wird zur selben Zeit und am selben Ort tot aufgefunden, wo er zuvor seinen Zwillingsbruder erschlagen hat – in der Heidelandschaft, an einem Runenstein.
Der Eichenwald bekommt als wesentliches Einzugsgebiet von der Herrschaft des Junkergeschlechts von Grieshuus einen ebenfalls starken Symbolgehalt zur Charakterisierung der Adelsfamilie. Nicht nur, dass die Eiche selbst der nordischen Mythologie zufolge dem Göttervater geweiht ist und für Stärke sowie Macht steht, auch die in dem Eichenwald unerbittlich wütenden Wölfe erhalten als Gegenspieler und gleichsam Spiegelbilder der Junker eine entscheidende symbolische Bedeutung. Diese zwiespältige Beziehung zeigt sich bereits in der Namensparallelität zwischen der norddeutschen Bezeichnung des Wolfes als de griese Hund – worauf an einer Stelle im Text explizit verwiesen wird – sowie der Benennung des Stammsitzes als Grieshuus. Auch weiterführend in den negativen, literarisch wolfsimmanenten Charaktereigenschaften, Zorn, Grobschlächtigkeit und generell mangelnde Affektkontrolle, werden die Junker mit den Wölfen in ihrer charakterlichen Attribuierung innerhalb der Chroniknovelle miteinander verknüpft.
Im gleichnamigen Stummfilm, der 1925 von dem Film- und Theaterregisseur Arthur von Gerlach inszeniert und dessen Drehbuch-Grundlage von Thea von Harbou bearbeitet wurde, sind zwar einige Stoffänderungen vorgenommen worden, um zum Beispiel die in einem filmischen Medium sicherlich schwer umsetzbare Komplexität der Erzählstruktur abzuschwächen. Allerdings sind beide, ,,die schlimmen Tage“ ebenso wie die Wölfe, wenn auch in reduzierter Form, als für die Erzählung wichtige, symbolische Sujets beibehalten worden. So wird schon in der ersten Szene des Films vor der unheilvollen Wirkkraft ,,der schlimmen Tage“ vergleichbar zum Originalwerk gewarnt und der Wolf ist als Wappentier der Junker neuinterpretiert worden.
Ähnlich dem Gefühl für eine Zeit des Umbruchs, wie sie in der Novelle auch im Hinblick auf eine europazentrierte historische Perspektive deutlich wird – der Tod der letzten Junker von Grieshuus fällt in dem historischen Rahmen des beginnenden 18. Jahrhunderts betrachtet mit der Zäsur der Großen Französischen Revolution und dem danach ,festgelegten‘ Anbruch der Neuzeit zusammen, demgegenüber wurde die Novelle in dem historischen Kontext des gerade vereinten deutschen Kaiserreichs und der beginnenden Moderne niedergeschrieben – bezeichnete auch die Produktion des Stummfilms eine Phase grundlegender Wandlung, hierbei vordergründig in der deutschen Filmindustrie.
Die geschäftliche Strategie der Ufa, hochwertig schauspielerische sowie visuell anspruchsvolle Filmwerke durch hohen Investitionsaufwand und künstlerische Innovation zu schaffen, um dadurch höhere Gewinne vor allem auf dem US-amerikanischen Exportmarkt zu generieren, bezeigte sich im Jahr 1925 zunehmend offen als unrentabel, wenn nicht gar als wirtschaftlich existenzbedrohend. Um den drohenden Konkurs zu verhindern, nahm die Ufa im Dezember 1925 einen millionenschweren Kredit bei Paramount und Metro-Goldwyn auf. Die mit dem Vertragsabschluss einhergehenden beiderseitigen Verpflichtungen hatten von nun an hauptsächlich einschneidende Auswirkungen auf die generelle Filmlandschaft in den deutschen Kinos, aber auch auf die Filmproduktion der Ufa, die nun fundamental von dem Kunst- und Wirtschaftsurteil der US-amerikanischen Filmstudios abhing.
Allein wegen ihrer jeweiligen, ganz unterschiedlichen Zeitkontext-Verortungen lohnen sich sowohl die Chroniknovelle selbst zu lesen als auch deren Stummfilmadaption zu schauen und sich auf die mythisch-düstere Atmosphäre einzulassen, die beiden Werken ganz eigentümlich zugrunde liegt.