Herbst Im Schloss

„Die Luft war erfüllt von dem starken Herbstdufte der Reseda, welcher sich von dem sonnigen Rondell aus über den ganzen Garten hin verbreitete. Hier an der rechten Seite desselben bildete die Fortsetzung des Buchenganges eine Nachahmung des Herrenhauses; die ganze Front mit allen dazugehörigen Tür-und Fensteröffnungen, das Erdgeschoß und das obere Stockwerk, sogar der stumpfe Turm neben dem Haupteingange, alles war aus der grünen Hecke herausgeschnitten und trotz der jahrelangen Vernachlässigung noch gar wohl erkennbar; davor breitete sich ein Obstgarten von lauter Zwergbäumen aus, an denen hie und da noch ein Apfel oder eine Birne hing. […]

Die schlanke Frauengestalt lehnte sorglos an einen schwanken Ast, indes die scharfen Augen in die Ferne drangen. – Ein Schrei aus der Luft herab machte sie emporsehen. Als sie über sich in der sonnigen Höhe den revierenden Falken erkannte, hob sie die Hand und schwenkte wie grüßend ihr Schnupftuch gegen den wilden Vogel. Ihr fiel ein altes Volkslied ein; sie sang es halblaut in die klare Septemberluft hinaus.“

 

– Ein Auszug aus Theodor Storms Novelle „Im Schloss“, die er im Jahr 1861 in Heiligenstadt schrieb und die er zu seinen wichtigsten und persönlichsten Werken zählte. Die Themen der Novelle sind die Kritik an vorherrschenden Strukturen, besonders die Religion und Preußen betreffend, und eine standesungemäße Liebe. Dargestellt wird dies durch die niedergeschriebenen Erinnerungen der Protagonistin, der Schlossherrin Anna. In dem vorherigen Auszug ging sie in den Schlossgarten, um dort auf ihren Lieblingsbaum zu klettern, von wo sie die Aussicht auf die sich langsam ändernde Jahreszeit genießen kann.