Die 32. Stormtage in Heiligenstadt – Ein Rückblick mit zwei besonderen Schenkungen für den Sammlungsbestand des Literaturmuseums (2/2)
Samstagnachmittag und Samstagabend
Dr. Frank Pritzke: Heines Taufe in Heiligenstadt. Theologische und biographische Aspekte
Nach der Mittagspause fanden sich alle wieder im Rosengarten des Literaturmuseums für den dritten Vortrag zusammen. Der Referent Dr. Frank Pritzke, der als Pastor und seit 2015 an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen auch als Lektor für Latein tätig ist, legte seine Auseinandersetzung mit Heinrich Heines Taufe in Heiligenstadt unter biographischen und theologischen Aspekten dar. Auf Basis der wissenschaftlichen Beschäftigung und der daran anschließenden Fragestellungen von Ferdinand Schlingensiepen rekonstruierte Dr. Pritzke die Tauf-Begebenheiten und stellte die Quellenlage zur Einordnung dieses Ereignisses vor. Zweitere setzte sich vornehmlich aus dem im Pfarrarchiv der Heiligenstädter St. Martinskirche aufbewahrten Briefkontakt zwischen Heine und dem damals amtierenden evangelischen Pfarrer, Gottlob Christian Grimm, zusammen. Heine selbst hinterließ der Nachwelt keine konkreten oder offiziellen Zeugnisse über seine Taufe.
Am selben Tag, also den 28.06.1825, habe Heine sowohl den Hin- als auch den Rückweg (Göttingen-Heiligenstadt) zu Fuß zurückgelegt, um in Heiligenstadt die evangelisch-lutherische Taufe zu empfangen, was einer beachtlichen Wanderleistung von über 80 km insgesamt entsprochen habe. Bestätigt werden könnten die bereits als gesichert angenommenen Erkenntnisse, dass Heine auf seinen eigenen Wunsch hin in Grimms Pfarrhaus (Am Knickhagen) getauft worden sei und nicht, wie es dem offiziellen Weg entsprochen hätte, in der St. Martinskirche. Heine habe sich davon versprochen, dass die Taufe so von der Öffentlichkeit unbemerkt bleiben würde.
Aus demselben Grund habe er sich Heiligenstadt als Taufstadt ausgesucht. Zwar sei er als feierwütiger Student in der Gegend durchaus bekannt gewesen, aber er habe in Heiligenstadt bei Weitem nicht so sehr gefürchtet, ins Visier zu geraten wie in Göttingen. Dort sei er bereits aus wohl antisemitischen Beweggründen nach seiner Duellaffäre aus einer Burschenschaft verwiesen worden, womit seine jüdische Herkunft sich (besonders noch befeuert durch eine Proselyten-Taufe) als potentiell in der allgemeinen Stadtbevölkerung verbreitendes Wissen aufrechterhalten haben dürfte.
Als Grund für die Geheimhaltung habe Heine jedoch Grimm gegenüber die Sorge über ein Zerwürfnis mit einem Familienmitglied genannt, das ihn bisher immer finanziell unterstützt habe. Damit habe er eigentlich nur seinen Onkel Salomon Heine meinen können. Durch weitere Briefkorrespondenzen Heines, vor allem mit seinem Freund Moses Moser, könne diese getätigte Aussage seinerseits aber falsifiziert werden. Darin erkläre Heine nämlich, dass seine gesamte Familie keine Vorbehalte gegen eine mögliche Taufe empfunden habe, schon gar nicht, dass ihm von seinem Onkel negative Konsequenzen wegen einer Entscheidung dafür gedroht hätten.
Im Gegensatz dazu hätten vornehmlich seine Familienmitglieder berufliche Zugangsmöglichkeiten mit Heines abgeschlossener Jura-Promotion durch eine Taufe gesehen, die ihm als Jude ansonsten verwehrt geblieben wären. Allerdings habe Heine den Taufakt für sich selbst entscheidend problematisiert. Sein Brief-Wortlaut verweise auf einen grundlegenden charakterlichen Zwiespalt zwischen seiner Herkunft, gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Glauben bzw. seinen eigenen Weg zu Gott, den Heine Zeit seines Lebens immer wieder mit sich ausgefochten habe.
Dr. Pritzke skizzierte Heine als äußerst belesenen und theologiekundigen Menschen, der sich schon früh eingehend mit den heiligen Schriften des Judentums und Christentums auseinandergesetzt habe. Unentwegt habe er darüber in seinem schriftstellerischen Werk reflektiert. Den reinen Glauben und die menschliche Nähe zu Gott betreffend scheint das ein überaus wichtiges Thema in Heines gesamten Leben gewesen zu sein. Seine eigene Religionszuweisung bzw. sein Religionszugehörigkeitsempfinden sei immerzu „inkonsistent“ geblieben, weswegen viele Irritationen und Brechungen in der Gesamtschau von Heines Formulierungen nicht überraschten.
Über Jesus Christus habe sich er häufig mitfühlend, idealisierend, gar verehrend geäußert. Außerdem habe er besonders stark mit dem Reformator Martin Luther sympathisiert, den er wertschätzend als den „deutschesten Deutschen“ bezeichnet habe. Allein die dahingehend positive Wertung Heines, lasse darauf schließen, dass er Luthers „Judenschriften“ nicht gekannt habe. Denn als gebürtiger Jude habe Heine sich mit der jüdischen Leidensgeschichte nicht nur stark identifiziert, sondern er habe auch seine eigene gesellschaftliche Außenseiterposition aufgrund der stetigen Diskriminierung und Gewalt gegen jüdische Menschen am eigenen Leib erfahren können. Mit Gleichgesinnten bzw. mit Menschen jüdischer Herkunft habe er sich deswegen immer verbunden gefühlt und sich für sie einsetzen wollen, auch wenn er den jüdischen Glauben nicht wirklich mit ihnen geteilt habe. Daraus sei auch sein Engagement für den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ in Berlin zustande gekommen.
Speziell betonte Dr. Pritzke die Einigkeit zwischen Heine und Pfarrer Grimm. Diese habe sich aus der ihnen gleichen Mentalität und Meinungsgrundhaltung gespeist. Vergleichbar zu Heines sei Grimm fundamental von der Spätaufklärung geprägt gewesen und habe sich als „christlicher Verstandesmensch“ begriffen, wie Dr. Pritzke anhand der inhaltlichen Darlegung der 8 durch Grimm ebenfalls verzeichneten Unterredungsgegenstände zwischen beiden kurz vor der Taufe argumentierte. In diesem Spätaufklärungsverständnis, gemischt mit der Hegelschen Fortschrittsphilosophie, der sich Heine stets schwankend hin- oder abgewendet habe, sei vor allem die evangelisch-lutherische Konfession ein grundlegendes Zugehörigkeitsbekenntnis zu einem bürgerlich-selbstbestimmten und damit gleichbedeutend von der Kontrolle der (römisch-katholischen) Kirche gänzlich losgelöstem Deutschland gewesen.
Den auch darin zu verorteten Zwist mit der Institution Kirche (vor allem der römisch-katholischen und damit in Verbindung stehenden Vertretern der literarischen Strömung der Romantik) legte Dr. Pritzke eindrücklich anhand der Platen-Affäre dar. Er verdeutlichte daran ebenfalls noch einmal, wie sich Heine als Jude und leidenschaftlicher Kirchenkritiker immer wieder vom Christentum bzw. der christlichen Gesellschaft, unabhängig der spezifischen Konfession, offen gebrandmarkt und ausgestoßen gesehen habe.
Sein rhetorisch gewitzter Umgang mit Semantik zeige sich auch in den biblischen Referenzen durch Textverweise, Gleichnisse oder Motivanbindungen, die er immer wieder in seinen Werken eingebettet und damit bewertend kontextualisiert habe. Mit christlicher Enthaltsamkeit habe sich Heine als Genussmensch zu keiner Zeit identifizieren können, was durch Erotisierungen und Verballhornungen von vielen biblischen Textanbindungen ersichtlich werde (z. B. im Gedicht „Das Hohelied“).
Aus dieser vielschichtigen Argumentation heraus, wie Heinrich Heine zum Christentum und seiner evangelisch-lutherischen Taufe stand, verwundert es somit nicht, dass dieser sich später als „protestierender Protestant“ betitelte. Der Referent unterstrich allerdings, dass noch viel theologisch-perspektivische Forschung in Zukunft möglich und nötig sei, um das Thema umfassender durchdringen zu können.
Letztlich verwies Dr. Pritzke auf den spannenden Umstand, dass Theodor Storms Töchter, Elsabe und Lucie, mit derselben Taufschale wie Heinrich Heine getauft wurden. Storm selbst jedoch war nicht bekannt, dass sein großes Dichter-Idol auf diese Weise den Weg mit ihm in Heiligenstadt gekreuzt hatte.
Pause im Rosengarten und Auftritt der Künstlergruppe Christian Georgie und Detlev Rose: „Ich bin ein deutscher Dichter“. Reminiszenzen an Heinrich Heine.
Ergänzt wurde die künstlerische sowie wissenschaftliche Beschäftigung mit Heine durch geselliges Zusammensein während der kulinarischen Versorgungspause am Samstagnachmittag mit Kaffee und eigens von den Vereinsmitgliedern gebackenen Kuchen im Rosengarten.
Als letzter Programmpunkt am Samstag gab die Künstlergruppe Christian Georgie und Detlev Rose ein Konzert, das mit einer Mischung aus Liedern, Gedichten, Prosa und Briefauszügen Reminiszenzen an Heinrich Heine erweckte, und dadurch eine musikalische Begegnung mit dem Dichter für das Publikum ermöglichte. Die Menschen vor Ort waren derart angetan von der Gruppe, dass sie nicht nur zahlreich erschienen waren, sondern unter großen Beifall auch noch eine Zugabe für sie gespielt wurde.
Sonntag
Prof. Dr. Eckart Pastor und Uta von Beckerath: Zum Beispiel ,,süß“: Vom ,,süßen Frätzchen“ und ,,süßen Schmätzchen“ zu ,,dunkelsüßem Grausen“ und ,,süßnärrischen Lauten“. Wie Heinrich Heine sich die Potentialitäten eines Wortes erschließt
Unter der Lesebegleitung von Uta von Beckerath vervollständigte Prof. Dr. Eckart Pastor die vielfältige Vortragsreihe der diesjährigen Stormtage. Auf der Textgrundlage von Heinrich Heines Gedichten (aus „Buch der Lieder“ und „Romanzero“), Dramen, Reiseberichten sowie literarischen Charakterportraits untersuchte Prof. Dr. Pastor die „verschlungenen Wege in Heines Dichtung und Fülle an Bedeutungsvielfalt“ am Beispiel der verschiedenen Semantiken von „süß“. Dahingehend knüpfte er an den von Gerhard Höhn in der Heine-Forschung geprägten Begriff der „kontraästhetischen Schreibweise“ an. Die Semantiken von „süß“ ordnete Prof. Dr. Pastor in vier verschiedene Kategorien ein: (1) Komische Kontraste, (2) Abtönungen (berückende Bedeutungsschwebe), (3) komisch-ernste Streiche und (4) süß-närrische Laute.
So nutze Heine die Semantik von „süß“ als Verballhornung romantischen Poesiejargons:
Durch die offne Luke schau ich
Droben hoch die hellen Sterne,
Die geliebten, süßen Augen
Meiner süßen Vielgeliebten.
Die geliebten, süßen Augen
Wachen über meinem Haupte,
Und sie blinken und sie winken
Aus der blauen Himmelsdecke.
(aus „Nachts in der Kajüte“, Buch der Lieder, Die Nordsee, Erster Zyklus, 11. und 12. Strophe)
Gegenüber August Wilhelm von Schlegel tauche „süß“ als „weibische“ Charakter-Attribuierung, also als Inszenierung männlicher Verweichlichung auf, die Schlegel verspotten und abwertend solle:
Das sonst so feine greise Köpfchen trug eine goldgelbe Perücke. Er war gekleidet nach der neuesten Mode jenes Jahrs, in welchem Frau von Staël gestorben. Dabei lächelte er so veraltet süß wie eine bejahrte Dame, die ein Stück Zucker im Munde hat, und bewegte sich so jugendlich wie ein kokettes Kind. Es war wirklich eine sonderbare Verjüngung mit ihm vorgegangen; er hatte gleichsam eine spaßhafte zweite Auflage seiner Jugend erlebt; er schien ganz wieder in die Blüte gekommen zu sein, und die Röte seiner Wangen habe ich sogar in Verdacht, daß sie keine Schminke war, sondern eine gesunde Ironie der Natur.
(aus „Die romantische Schule“, Zweites Buch Die Romantiker, I. Die Gebrüder Schlegel)
Im Gegensatz dazu werde in dem Charakter-Portrait von Jehuda ben Halevy die semantische Verbindungsambivalenz zwischen anziehender Erhabenheit und gleichsam tiefschmerzender Trauer deutlich:
Ich erkannt’ ihn an der bleichen
Und gedankenstolzen Stirne,
An der Augen süßer Starrheit –
Sah’n mich an so schmerzlich forschend –
(aus „Jehuda ben Halevy“, 5. Strophe)
Vergleichbare semantische Verbindungsambivalenzen von Liebessehnsucht und damit einhergehender todbringender Liebeserfüllung offenbarten sich ebenfalls in Heines Gedichten:
Einsam wandl ich an dem Strand,
Wo die weißen Wellen brechen,
Und ich hör viel süßes Wort,
Süßes Wort im Wasser sprechen.
Ach, die Nacht ist gar zu lang,
Und mein Herz kann nicht mehr schweigen –
Schöne Nixen, kommt hervor,
Tanzt und singt den Zauberreigen!
(aus „Auf den Wolken ruht der Mond“, 3. und 4. Strophe)
Stadtspaziergang durch Heiligenstadt auf Heines Spuren
Aufgeteilt in zwei Gruppen stellten die Stadtrundführenden Sigrid Seifert und Günter Liebergesell auf einem Spaziergang durch Heilbad Heiligenstadt verschiedene Stationen vor, an denen Heinrich Heine für seine Taufe am 28.06.1825 vorbeigekommen war oder an denen heute noch an Heinrich Heine erinnert wird (z. B. im Heinrich-Heine-Kurpark). Auch das Leben der jüdischen Gemeinde in Heiligenstadt wurde näher beleuchtet. Dahingehend vermittelte Frau Seifert passende Eindrücke beim Standort der ehemaligen Synagoge der Stadt in der Stubenstraße (Nr. 14). Nach der Rückkehr zum Literaturmuseum klang der frühe Nachmittag schließlich bei der Einnahme eines gemeinsamen Imbisses aus.
Die zweite besondere Schenkung von dem Storm-Nachfahren Detlev Krey
Zu unserer großen Freude befanden sich unter unseren Gästen auch dieses Jahr Nachfahren und Nachfahrinnen von Theodor Storm. Mit besonderer Wertschätzung dankte der Museumsleiter Dr. Haut stellvertretend für Museum und Storm-Verein dem Storm-Nachfahren Detlev Krey für eine weitere großzügige Schenkung anlässlich der diesjährigen Stormtage. Das betreffende Konvolut besteht aus Briefen, einem Kartoffeltheaterstück und einer Brosche mit eingewobenem Echthaar aus der mütterlichen Linie der Familie Storm.
Ab sofort können Sie neben der Echthaar-Brosche auch zwei andere, zuvor getätigte Schenkungen von Herrn Krey bei uns in der Dauerausstellung bestaunen!
Anerkennender Dank gilt allen Referierenden bzw. Vortragenden, allen Menschen, die uns während der Stormtage besucht haben, sowie natürlich allen Mitgliedern des Storm-Vereins, die mit ihrem Engagement die diesjährigen Stormtage erst ermöglichten.