Goldne Rücksichtslosigkeiten

Im Oktober und November 1854 schrieb Storm einen längeren Brief an Eduard Mörike. Als Beilage gab er zwei handschriftliche Gedichte mit, die im Dezember des Jahres in der Wochenschrift „Deutsches Museum“ zum ersten Male erschienen.

Manche Ratschläge, die er im Gedicht erteilt, finden sich schon zuvor in Briefen Storms, etwa an Theodor Fontane. Bei vielen der lehrhaften Aussagen seiner Verse greift Storm auf geläufige Redewendungen biblischen Ursprungs zurück. Das geflügelte Wort „goldne Rücksichtslosigkeiten“ jedoch prägte er selbst.

 

Für meine Söhne

Hehle nimmer mit der Wahrheit!
Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue;
Doch, weil Wahrheit eine Perle,
Wirf sie auch nicht vor die Säue.

Blüte edelsten Gemütes
Ist die Rücksicht; doch zuzeiten
Sind erfrischend wie Gewitter
Goldne Rücksichtslosigkeiten.

Wackrer heimatlicher Grobheit
Setze deine Stirn entgegen;
Artigen Leutseligkeiten
Gehe schweigend aus den Wegen.

Wo zum Weib du nicht die Tochter
Wagen würdest zu begehren,
Halte dich zu wert, um gastlich
In dem Hause zu verkehren.

Was du immer kannst, zu werden,
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karrieremachen.

Wenn der Pöbel aller Sorte
Tanzet um die goldnen Kälber,
Halte fest: du hast vom Leben
Doch am Ende nur dich selber.