Lisbeth in Todesgefahr
Im August 1858 schreibt Theodor Storm seinen Eltern von einem dramatischen Familienvorfall:
„Gestern ist unsre kleine Lisbeth einer Todesgefahr entronnen.
Wir hatten, wie schon öfter, da wir das einzige Mädchen nach Tisch nicht entbehren können, die 4 Kinder zu Otto hinabgehen lassen, um dann später nachzukommen. Als wir um 5 U. nachkamen, lag Lisbeth nackt in Josephes Bett und unterhielt sich mit Onkel Otto. Sie war, als Hans sich eben von ihr gekehrt, einige Schritte links von der Brücke ins Wasser gefallen.
Der von dem vielen Regen sehr stark fließende Strom hatte es sofort Kopfüber Kopfunter mit sich fortgerissen. Hans schrie, da sah es Frau Rott, die aber statt hineinzuspringen, rief erst Petersen, der bei den Mistbeeten arbeitete. Zwanzig Schritte unterhalb der Stelle, wo sie hineingefallen, auf dem über dem Wasser befindlichen Stege saßen Ernst und Karl. Ernst – So erzählte es mir auch der kleine Losche nachher unter strömenden Thränen – griff zu und erfaßte sie an den Kleidern, konnte sie aber nicht halten, so daß sie unter dem Steg forttrieb, noch einige Schritte; dann sprang Petersen ins Wasser und holte sie heraus. Es sei gar nichts mehr von ihr zu sehen gewesen, sagte P.
Das erste, was Sie gesagt, nach dem sie sich von dem Schreck besonnen, sei gewesen ,,Ach mein neue Keid!“ (Kleid)
Ihr hättet die Verzweiflung und Angst der drei Brüder sehen sollen! Ernst konnte sich nicht darüber fassen, daß er sie wieder hatte loslassen müssen; Hans, der immer bereite, war hingestürzt um ihr Kleider zu holen und ganz heiß und in Schweiß und Anstrengung, Losche weinte immer zu. “Das Wasser trudelte ihr immer über den Kopf“, sagte Ernst, “ich mußte sie loslassen; sonst wäre sie ja gestickt.“ Vielleicht ist es doch ein Glück, daß er sie dort einige Augenblicke aufgehalten.
Uebrigens hat ihr gar nichts danach gefehlt; sie zeigte mir gestern Abend noch selbst, wo sie hineingefallen war, und eben hat sie auf ihr ausdrückliches Verlangen ganz allein für einen Sechser Zwieback von einem benachbarten Bäcker geholt.
Constanze aber ist mir heute noch ganz caput; sie kann es sich nicht verzeihen, daß sie die Kinder allein hat gehen lassen; und Hans hatte sich, wie vorauszusehen, einen stundenlangen Hustenschauer zugezogen, der auch dem ihm in der Nacht von mir gereichten Thran nicht weichen wollte. Tags über ist er scheinbar wohl. –
Ich bin nun mit Ernst darüber aus wo möglich für nächsten Sommer eine Wohnung mit Garten zu bekommen; denn so wie jetzt, sitzen wir zwischen Thür und Angel; die Kinder den ganzen fern von Haus sich allein zu überlassen, davor sind wir jetzt gewarnt, und sie den ganzen Tag in den kleinen Stuben zu halten, das ist doch auch Zu traurig für die kleinen muntern Gesellen. Leider ist hier nichts schwieriger, als eine Wohnung mit Garten zu bekommen.“
[Theodor Storm an seine Eltern, Heiligenstadt, 3. August 1858. Die Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit hinzugefügt.]