Im Schloss – Ein Protestwerk
Text von Marlene Samel, B. A. (Praktikantin vom 19. August – 11. September 2025)
Ein zentraler Schlüsseltext, den Theodor Storm während seines Aufenthalts in Heiligenstadt verfasste, ist die Novelle Im Schloss, die erstmals 1862 in der illustrierten Familienzeitschrift Die Gartenlaube erschienen ist. Dieses Werk nahm für Storm selbst einen wichtigen Stellenwert in seinem schriftstellerischen Werdegang ein. So äußerte er in einem Brief vom 16. Dezember 1861 an seinen Freund, den deutschen Maler und Kunstschriftsteller Ludwig Pietsch, dass diese Novelle für ihn so „tief und bedeutend“ sei, wie er „nur je etwas geschrieben habe“. In seinem Umfeld wurde die Novelle jedoch weitaus kritischer wahrgenommen. Noch während seiner Arbeit an Im Schloss sollen Freunde Storms, wie beispielsweise der dem Militäradel entstammende preußische Verwaltungsjurist Alexander von Wussow und dessen Frau Anna, sich über den Text echauffiert haben. Auch nach der Veröffentlichung waren einige Herausgeber beim Drucken der Novelle zögerlich. Doch warum wurde die Novelle im Gegensatz zu Storms eigenem Empfinden so kritisch betrachtet?
Im Schloss handelt von der adeligen Schlossherrin Anna, die in Form von niedergeschriebenen Erinnerungen von ihrer Liebesbeziehung zum bürgerlichen Hauslehrer Arnold erzählt. Diese Liebe scheitert jedoch, als Anna dazu gezwungen ist, ihren familiären Verpflichtungen nachzugehen und eine standesgemäße Ehe einzugehen. Anna ist fortan in ihrer unglücklichen Rolle als verheiratete Frau und in dem allmählich verfallenden Schloss gefangen. Doch nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes und dem Tod ihres ersten Kindes, gleich nach der Geburt, kann Anna wieder zu Arnold finden. Sie übergibt die Verantwortung über das Anwesen ihrem Onkel und kann von da an in Freiheit mit ihrem Geliebten leben.
Mit der Novelle setzt sich Storm kritisch mit den gesellschaftlichen Standesunterschieden des 19. Jahrhunderts auseinander, hinterfragt die christlich geprägten Normen und Moralvorstellungen, stellte sich offen gegen die Vormachtstellung von Adel und Kirche. Dabei war seine Kritik derart explizit, dass dies im katholischen Eichsfeld und im Verlagswesen zur Aufruhr führte. So zensierte der Herausgeber der Gartenlaube, Ernst Keil, in Storms Unwissenheit eine provokative Aussage der Protagonistin Anna, die auf die Frage, ob ihr Kind unehelich sei, mit dem Ausruf Leider nein! antwortet.
Storm hingegen wehrte sich und setzte sich weiterhin für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Adel und Kirche auf die Gesellschaft ein. So plädierte er für die Eigenständigkeit des freien Individuums, das durch eigenen Erkenntniswillen die Weltordnung begreift. Dies verdeutlicht Storm in seiner Novelle durch die Unterhaltung zwischen Anna und ihrem Onkel. So erläutert dieser seiner Nichte den Überlebenskampf des Maikäfers gegen den Carabus. Damit skizziert Storm den naturwissenschaftlichen Selbsterhaltungstrieb der Natur und nimmt die zeitlich später formulierte Evolutionstheorie nach Charles Darwin vorweg.
Storm trat für eine Lebensweise ein, die sinnliches Empfinden und Tugendhaftigkeit vereinen sollte. Er distanzierte sich von einem durch Materialismus und Atheismus geprägten Weltbild und setzte an ihre Stelle eine Liebesphilosophie, die einem agnostisch geprägten Wunsch nach Daseinssinn entsprach. Mit dieser kritischen Haltung reihte sich Storm in das Weltbild vieler zeitgenössischer Philosophen wie Hegel oder Feuerbach ein. Er weigerte sich, Änderungen an seinem Text vorzunehmen, und bestand auf einer unverfälschten Veröffentlichung. Mit seiner Novelle Im Schloss glaubte Storm, die zentralen Merkmale des poetischen Realismus verwirklicht zu haben, einer literarischen Strömung, die sich um eine ästhetische, aber auch realistische Darstellung der eigenen Lebenswelt bemühte. Diese Merkmale zeigen sich insbesondere in der psychologischen Tiefe seiner Figuren und dem detaillierten Einblick in das bürgerlich perspektivistische Leben des 19. Jahrhunderts.