Zur Chronik von Grieshuus – Von Wölfen und schlimmen Tagen (Teil 1/2)
Am Sonntag, den 6. Oktober, hatten wir das Vergnügen, den Stummfilm Zur Chronik von Grieshuus aus dem Jahr 1925, der frei auf der gleichnamigen und bis heute leider oft in Vergessenheit geratene Chroniknovelle von Theodor Storm beruht, einem öffentlichen Publikum in der St. Marienkirche in Heilbad Heiligenstadt vorzuführen. Zu diesem Anlass spielte der renommierte Organist Marius Beckmann vor Ort zur Untermalung des Stummfilmgeschehens die Begleitmusik auf der Orgel.
Im Folgenden wird der Inhalt der Chroniknovelle etwas umfassender skizziert, um daran anschließend die mystische Atmosphäre des Werks eindrücklicher fassbar machen zu können. Auf „Die schlimmen Tage“ als prägnantes Beispiel für vorchristlich-mythische Motivik, genauso wie die für das Werk bedeutsame Wolfssymbolik soll dabei beispielhaft vertiefend eingegangen werden. Die beiden Fragen, inwieweit die Chroniknovelle selbst sowie deren Stummfilmadaption sich darin unterscheiden und sie beide jeweils als Dokument ihres historischen Entstehungskontextes gesehen werden können, sollen den Abschluss dieses zweiteiligen Blogeintrages bilden.
Die von Beckmann ausgewählten Orgelkompositionen vermochten es, die in der Stummfilmadaption aus dem literarischen Originalwerk transformierte einnehmend mythisch-düstere Atmosphäre stimmig wiederzugeben, wenn nicht sogar eindrücklich zu verstärken. Gestützt wird diese von der Erzählung über den Verfall und den schließlich unvermeidbar scheinenden Untergang der letzten drei Generationen eines alteingesessenen Junkergeschlechts, das einst in Holstein bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts ,,ob der Heidenmulde“ (,,baven de Heidkul“) auf dem Herrenhaus zu Grieshuus residierte. Der Handlungsfokus der beiden Binnenerzählungen wird vornehmlich auf das Schicksal des ,inoffiziell‘ zuletzt amtierenden Oberhauptes der Dynastie, Junker Hinrich von Grieshuus, sowie auf dessen Enkelsohn Rolf gelegt.
Infolge der nicht standesgemäßen Liebesbeziehung, die Hinrich mit Barbara, der Tochter des bei der landadligen Familie in Diensten stehenden Kornschreibers, unterhält, kommt es zu einem folgenschweren Zerwürfnis zwischen Hinrich und seinem Vater. Daraufhin wird Hinrichs Anrecht als ältester Sohn des alten Junkers auf dessen Erbe grundlegend in Zweifel gezogen. Nach dem Tod des Vaters und der anschließenden Heirat Hinrichs mit Barbara wird Hinrichs Position als Stammhalter des Herrenhauses Grieshuus von seinem jüngeren Zwillingsbruder Detlev offen angefochten. Es entsteht ein in der Öffentlichkeit ausgetragener Machtkampf zwischen den Brüdern um den Stammsitz, wobei Hinrich Detlev letztlich im Zorn erschlägt. Während Barbara in derselben Nacht im Kindbett stirbt und Hinrich die gemeinsame Tochter Henriette hinterlässt, verschwindet Hinrich spurlos.
Einige Jahre vergehen, in denen Henriette abseits des Herrenhauses aufwächst, einen schwedischen Oberst heiratet und im jungen Alter nach der Geburt des Sohnes Rolf stirbt. Vater und Sohn beziehen erneut den Stammsitz Grieshuus und es trifft während Rolfs Kindheit ein scheinbar fremder Wildhüter ein, der im Besonderen dem Knaben seine Dienste anbietet. Allmählich entwickelt sich eine tiefgehende Beziehung zwischen Rolf und dem Wildhüter, der zunehmend als Mentor für den Jungen fungiert, um ihn auf seine Verantwortung sowie auf seine Verpflichtungen als zukünftiger Junker von Grieshuus, vorzubereiten. Im Zuge der gemeinsamen Jagd nach der letzten Wölfin im umliegenden Eichenwald des Herrenhauses offenbaren sich Schuld und Sühne des Wildhüters, dessen wahre Identität sich als die des verschollenen Junkers Hinrich herausstellt.
Als der Große Nordische Krieg ausbricht, schließt sich Rolf der Armee des schwedischen Feldmarschalls Magnus Gustafsson Steenbock an. Während eines nächtlichen Gefechts um die Brücke in der Nähe von Grieshuus fällt Rolf im Kampf. Kurz darauf wird auch Hinrich tot aufgefunden. Es findet mit der Beisetzung der beiden Männer in der Krypta von Grieshuus eine letzte feierliche Zeremonie zu Ehren der Familie statt. Das bedeutet nicht nur das Ende der Erblinie, weil die Junker im Mannesstamm erloschen sind, sondern der Tod der letzten Überlebenden der landadligen Dynastie besiegelt auch eine Zeitenwende für das ehemalige Herrschaftsgebiet von Grieshuus.
Die mystisch-schaurige Atmosphäre von Storms Chroniknovelle wird bereits auf der ersten Erzählebene hervorgerufen, die in die Handlung der Binnenerzählung rund um die Familiengeschichte der Junker überleitet. Es herrscht ein ,,stürmischer Oktobernachmittag mit seiner nordischen Sagenstimmung“ als sich der ‚erste Chronist‘, ein junger Student, der aus der Gegend des ehemaligen Herrschaftsgebiets von Grieshuus stammt, auf eine Wanderung ins Freie begibt, um Zerstreuung zu suchen. Nicht nur die grundlegende Beschreibung der Heide als zwiespältige Grenzlandschaft zwischen ungebändigter, wilder Natur und dem von den Gesetzen der Menschen zivilisierten, geordneten Lebensraum auch die Schilderungen der ihn durch diese Heidelandschaft hindurchführenden Begebenheiten lassen aufhorchen:
Je näher der Student den baulichen Überresten des Herrenhauses von Grieshuus kommt, desto mehr bestärkt sich der Eindruck, dass man mit ihm in eine Sphäre eingetreten ist, die sich der menschlichen Rationalität und damit auch dem menschlichen Machtanspruch entzieht; eine Welt, die der Mensch nicht bestimmt, sondern eine Welt, der der Mensch selbst körperlich und seelisch ausgeliefert ist. So kommt der Student nach seiner Wanderung durch die düster wabernde Heidelandschaft, in der sich – abgesehen von den flüchtigen Konturen eines grauen Vogels – kein Tier blicken lässt, in ein kleines Dorf. In diesem geht es jedoch eindeutig nicht mit rechten Dingen zu.
Die Dorfkulisse präsentiert sich ,verkehrt herum‘ vor den Augen des Studenten:
Das Dorf ,,lag zwischen mageren abgeheimsten Feldern, der aus rohen Felsquadern aufgemauerte Turm der tiefliegenden Kirche überragte kaum die niedrigen, nur selten durch eine Rüster oder Pappel halbverdeckten Strohdächer“.
Anstatt eine reiche Ernte hervorzuheben, mit deren Ernährungsgrundlage Dank, Freude, Festlichkeit und Sicherheit für die bäuerliche Bevölkerung im noch bevorstehenden Winter einhergehen, oder das im Herbst typisch bunte Aufbegehren der Natur im Färben der Blätter darzustellen, ist die Gegend geradezu lebensfeindlich. Sie ist ihrer Reichhaltigkeit für den Lebenserhalt scheinbar beraubt worden, ohne das davon etwas Lebendiges entstanden oder aufrechterhalten worden sei. Obwohl die Kirche für gewöhnlich das höchste Gebäude innerhalb einer Dorfgemeinde sein sollte, ist sie in diesem Dorf das niedrigste. Noch dazu lässt ein roher, blank aufgemauerter Turm mitnichten einen gottesnahen Zufluchtsort vermuten.
Es treffen Gegensätzlichkeiten, Jung und Alt, Gelehrter und Bauer, aufeinander, die sich spiegeln. Räumliche und zeitliche Gesetzmäßigkeiten erscheinen seltsam widersinnig. So trifft der Student einen alten Bauern, der der Windrichtung entgegen auf seinen Gruß wie ein Echo antwortet:
,,Jenseit derselben begegnete mir ein alter Mann mit einer Furke auf der Schulter. »Guten Tag!« rief ich durch den Wind ihm zu. »Guten Tag auch!« wiederholte der Alte wie im Widerhall; ich sah es nicht, aber ich glaubte es zu fühlen, wie er stehenblieb und mir verwundert nachsah.“
Fortsetzung folgt.