Auf der Universität – Eine „ganz famose Schlittenfahrt“ im Januar (2/2)

Auf der Eisdecke des Sees wird es zunehmend gefährlicher – so geht die Schlittenfahrt von Philipp und Lore im zweiten Teil des literarischen Blogbeitrags von Januar weiter:

 

,,Schon hatten wir den Bereich der gewöhnlichen Schlittschuhläufer hinter uns gelassen; kein Lüftchen regte sich, das weiß bereifte Schilf, das sich weithin dem Ufer entlang zieht, glitzerte blendend in den schräg fallenden Sonnenstrahlen. Immer weiter ging es; wenn ich niederblickte, konnte ich die schlangenartigen Triebe des Aalkrautes unter der durchsichtigen Glasdecke erkennen.

Aber die Mitte des Sees lockte mich; unmerklich wandte ich den Schlitten, und immer größer wurde der Raum, der uns vom Ufer trennte. Schon konnte ich beim Zurückblicken nur noch kaum das Blinken des Schilfes unterscheiden; geheimnisvoll dehnte sich die dunkle Spiegelfläche bis zum andern, weit entfernten Ufer, kaum erkennbar, ob eine feste tragende Eisdecke oder nur ein regungsloses trügliches Gewässer. Endlich war die Mitte erreicht. Jede Spur eines menschlichen Fußes hatte aufgehört; wie verloren schwebte der Schlitten über der schwarzen Tiefe. Keine Pflanze streckte ihr Blatt hinauf an die dünne kristallene Decke; denn der See soll hier ins Bodenlose gehen. Nur mitunter war es mir, als husche es dunkel unter uns dahin. – – War das vielleicht der Sargfisch, der in den untersten Gründen dieses Wassers hausen soll, der nur heraufsteigt, wenn der See sein Opfer haben will?

– Wenn es wäre, dachte ich, wenn es bräche! Und meine Augen suchten die dunkeln Hüllen zu durchdringen, in denen ich die liebliche Gestalt verborgen wußte. –“

 

In der Szenenkomposition dieser Schlittenfahrt auf dem vereisten See treffen in einer überwältigenden Intensität Gefühle und Eigenschaften aufeinander, die sich bizarrerweise im gleichen Maße gegenseitiger Kontrast sind, genauso wie sie durch Folgerichtigkeit miteinander verbunden werden:

Das Jahreszeitenende im Winter trifft auf den Jahresanfang im Januar, die Leichtigkeit des Schiebeschlittens auf die Schwere des drückenden Gewichts auf die Eisfläche. Zusammen kommen freimütige Neugier und drohende Gefahr, Sehnsucht und Einsamkeit, lebendige Leidenschaft und todbezeigende Endlichkeit. In der präzisen Ausgestaltung des Naturraums spiegelt sich die ihnen gemeinsame Wesensart von Philipp und Lore wider. Beide werden der Leserschaft als sinnlich hingebungsvolle Menschen präsentiert, die sich im Rausch des Augenblicks gänzlich verlieren können.

Drastischer als in den vorangegangenen gemeinsamen Tanzszenen leben sie während der Schlittenfahrtszene nur im Ereignismoment: Sie beide wollen so schnell wie möglich über den zugefrorenen See fahren, um das Gefühl vom Fliegen zu haben. Dahingehend nehmen sie die stetig präsente Bedrohung in Kauf, im Eis einbrechen können. Mehr noch fährt Philipp gezielt in die Mitte des Sees, wo nicht nur die Dicke der Eisfläche am geringsten ist, sondern auch wo die Wassertiefe nicht mehr abschätzbar ist. Das alles tut er, wie er erklärt, weil ihn die Mitte des Sees anlocke. Verführt ihn der Nervenkitzel dazu, etwas herauszufordern, was bis dahin kein anderer Mensch in diesem Winter gewagt hat? Oder ist es die Schönheit des kristallglitzernden Sees und diese gänzlich erblicken zu können, die ihn dazu verführt?

 

Wahrscheinlich ist es sogar beides, denn die Erklärung für die gegenseitige Anziehung zwischen Lore und Philipp, spiegelt sich im Naturraum der Schlittenfahrtszene wider.

Es ist diskutabel, ob (nur) eine verschiedene Standeszugehörigkeit einer langfristigen Verbindung zwischen ihnen im Weg steht. Denn es bleiben in Bezug darauf, wie und warum sich die Beziehung zwischen Philipp und Lore in der Novelle so entwickelt, wie sie sich entwickelt, viele inhaltliche Leerstellen zurück, die unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten bieten.

Anhand der Handlung und Äußerungen beider innerhalb der vierten Textepisode, die auf die der Schlittenfahrt erfolgt, wird deutlich, dass Lore durchaus schon über eine längere Zeit hinweg mit dem Gedanken ringt, dass sie nicht standesgemäß für Philipp sei und er sie deshalb wohl nie heiraten werde. Trotz dessen gibt sich Lore ihrem sinnlich hingebungsvollen Charakter entsprechend bis zu einem gewissen Grad ihren romantischen und/ oder sexuellen Gefühlen für Philipp hin. Demgegenüber denkt Philipp wohl, bis es Lore anspricht, gar nicht über eine Zukunft bzw. konkrete Beziehungsgestaltung mit ihr nach, blendet diese Gedankengänge bis dahin vielleicht sogar ganz bewusst komplett aus. Vergleichbar zu Lore befindet er sich mental nur im Ereignis- bzw. Handlungsmoment, wenn die beiden zusammen sind, ohne dessen Folgen klar vor Augen zu haben; oder vielleicht eher gesagt: ohne dessen Folgen klar vor Augen haben zu wollen?

Für ihn ist es nicht zuletzt die Sehnsucht nach Lore – deren Schönheit er zusammen mit Fritz schon immer vom Fenster aus bewunderte und derer er sich dementsprechend vor den Tanzstunden hatte nicht nähern dürfen –, die den zuvor einsam vor sich hinfahrenden Philipp wieder zurück auf die Eisfläche führt und die gemeinsame Schlittenfahrt überhaupt auslöst. Außerdem scheint sich in diese Sehnsucht auch ein gewisser Nervenkitzel zu mischen, Lore einem anderen Jungen abspenstig zu machen und das zu tun, ohne dabei von ihr entlarvt zu werden.

 

Zumindest irritierend wirken die zwei letzten Sätze, die Philipp auf der Mitte des Sees gedanklich fallen lässt, als er auf ein mögliches Erscheinen des Sargfisches unter ihnen hinweist:

Wenn es wäre, dachte ich, wenn es bräche! Und meine Augen suchten die dunkeln Hüllen zu durchdringen, in denen ich die liebliche Gestalt verborgen wußte.

Welche Bedeutung ist hier herauszulesen? Wie können wir als Leserschaft diese gedankliche Momentaufnahme verstehen – als Äußerung der Angst vor dem gemeinsamen Tod nach dem Einbruch im Eis oder als Wunsch, lieber gemeinsam zu ertrinken und diese Schlittenfahrt als leidenschaftlichen Lebensendpunkt zu markieren, anstatt sich den realistischen Konsequenzen einer gemeinsamen Beziehung zu stellen? Oder glaubt Philipp keine Chance zu haben, Lore überhaupt für sich zu gewinnen?

Die Lebensgefahr der herbeigeführten Situation wird bildlich durch die schlangenartig beschriebenen Triebe des Aalkrauts und dem huschenden Schatten verdeutlicht, die beide in den Wassertiefen lauern. Den Schatten setzt Philipp gar in Verbindung mit der unheilvollen Fabelkreatur des Sargfisches. Im Aberglauben befangen wird das Erblicken des Sargfisches als eindeutiges Todessignum gewertet. Somit wird der Handlungsausgang der Novelle symbolisch vorausgezeichnet.

Hätte Philipp Lore vor ihrem tragischen Ende in der letzten Textepisode bewahren können, wenn er seine Gefühle wenigstens ihr gegenüber einmal offen und ehrlich bekannt hätte? Wird sich Lore später gar in den gesellschaftlichen sowie psychisch eigenen Abgrund stürzen, weil sie glaubt, nicht mit Philipp zusammen sein zu können, der ihr mit einer Heirat noch dazu einen rechtmäßigen Eintritt in die hochbürgerliche Gesellschaftsschicht ermöglicht hätte? Die durch den poetisch inszenierten Naturraum der Schlittenfahrtszene hervorgerufene Verbildlichung des übermütigen Philipp, der die im Schlitten sitzende Lore mit rasanter Schnelligkeit von hinten an den tiefen, lebensgefährlichen Abgrund des Sees schiebt, spricht dahingehend aussagekräftig für sich.

 

Falls Sie die Novelle noch nicht kennen oder gelesen haben, haben Sie vielleicht Lust bekommen, das nachzuholen und sich selbst ein Urteil zum Inhalt zu bilden? Eine klare Leseempfehlung für dieses Meisterstück unter Storms Heiligenstädter Novellen!

 

~ Judith Windel