Auf der Universität – Eine „ganz famose Schlittenfahrt“ im Januar (1/2)
Im Folgenden soll es um die Schlittenfahrtszene in Storms Heiligenstädter Novelle „Auf der Universität“ gehen, die zeitgenössisch großen Eindruck auf Theodor Fontane machte. Um aufzuzeigen, warum diese Szene einen so zentralen Stellenwert für die Handlung sowie für die Hauptfiguren einnimmt und inwieweit die präzise realitätsnahe Ausgestaltung für die Novellen aus Storms Heiligenstädter Schaffenszeit bedeutsam ist, wird zunächst eine inhaltliche Zusammenfassung der Novelle gegeben. Daran schließen sich eine eingehende Betrachtung der betreffenden Schlittenfahrtszene sowie deren Einrahmung durch den poetisch inszenierten Naturraum an.
Die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Theodor Storm und seinem Schriftstellerkollegen Theodor Fontane bleibt rückblickend betrachtet als schwierig zu bewerten. Allerdings trat Fontane nicht nur als spöttischer Kritiker, sondern wiederholt auch als Fürsprecher für Storms emotionale Stimmungskunst auf. Eine bestimmte Novelle, die Storm 1862 in Heilbad Heiligenstadt verfasste, löste bei Fontane im besonderen Maße Wertschätzung aus. Diese äußerte er selbst in einem Brief an Storm am 13. Dezember 1862 wie folgt:
„Lieber Storm, (…)
Ich will Ihnen meinen aufrichtigen Dank aussprechen für ihre jüngste kleine Erzählung, einmal dafür daß Sie, wie ich vermuthen muß, die Uebersendung überhaupt veranlaßt haben, dann für die „Freude in Thränen“, die mir auch diese Ihre letzte Arbeit bereitet hat. (…) Die einzelnen Schilderungen und Situationen sind zum Theil das beste, was Sie je geleistet haben. Die Tanzstunde, die ganz famose Schlittenfahrt, das Carussel, das Aufsuchen des Hauses im Walde, dies Haus selbst bei Tag und Nacht – alles sehr, sehr schön. Meine Frau theilt ganz und gar meine Empfindungen, ja geht noch darüber hinaus. Sie empfiehlt sich Ihnen und Frau Constanze; so thu auch ich und bin wie immer Ihr alter Stormianer.“
Bei dem betreffenden Werk handelt es sich um „Auf der Universität“. Die Handlung wird in acht Textepisoden erzählt und dreht sich um den tragisch endenden Werdegang eines Mädchens aus einfachen Verhältnissen, Leonore – kurz Lore – Beauregard:
Zu Beginn wird in der Tanzschule einer Stadt in Schleswig-Holstein dringend eine Tänzerin gesucht, um acht Tanzpaare bilden zu können. Weil sich kein Mädchen bürgerlicher Herkunft zu diesem Zweck auftreiben lässt, überreden Philipp – der Ich-Erzähler – und sein Freund Fritz – der Sohn des Bürgermeisters – Margret Beauregard dazu, ihre dreizehnjährige Tochter Lore an den Tanzstunden teilnehmen zu lassen.
Bereits während der ersten Tanzstunde zeigt sich das Talent und die Leidenschaft des schönen Mädchens zum Tanzen, was die Missgunst von den ständisch höhergestellten Bürgertöchtern schürt. Zwar wird Lore fortwährend ausgegrenzt und gedemütigt. Aber der Einblick durch das Tanzen in die höhere bürgerliche Gesellschaft mit ihren materiellen und ästhetisch ansprechenden Annehmlichkeiten wird für sie über ihren Lebensabschnitt in der Tanzschule hinaus zu einem tief eingeprägten Traumbild. Diesem hängt sie die folgenden Jahre über derart mit emotionaler Rastlosigkeit nach, dass das Ende der Geschichte mit einem tödlichen Ausgang zusammenfallen wird.
Nur von Fontanes Urteil zu den Szenenkompositionen ausgehend, ist tatsächlich bemerkenswert, dass diese in „Auf der Universität“ in noch detaillierteren literarisch-konstruierten Lebensräumlichkeiten verortet werden als es noch in Storms Frühwerk – Z. B. in „Immensee“ – spürbar gewesen ist. Diese Beobachtung lässt sich für alle Heiligenstädter Novellen treffen. Nach wie vor wird keine fotorealistische Abbildungstreue in der literarischen Ausgestaltung der Lebensräume in Storms Novellen angestrebt. Denn es besteht immer die poetische Funktion, eine greifbare Illusion von Realität zu erzeugen und Weltwissen bereitzustellen, um die lebensweltlichen Einflüsse auf die Figuren glaubhaft sowie nachvollziehbar machen zu können.
Ergänzend dazu spiegelt die präzise Ausgestaltung der räumlichen Darstellung das Verhalten, einzelne Charakterzüge oder die komplette Wesensart der Figuren wider; die Gestaltungselemente in der Werkskomposition stehen demnach hinsichtlich ihrer Bedeutung in beständiger Wechselwirkung zueinander. Typisch für Storm ist, dass das Zeichensystem in jedem seiner Werke komplex ist und vor allem durch dessen Hauptfaden der Natursymbolik Knotenpunkte in Naturräumen fixiert werden.
Passend zum aktuellen Monat wird die von Fontane beurteilte „ganz famose Schlittenfahrt“ innerhalb der Novellenhandlung im Januar verortet und bildet darin einen ganz besonderen Knotenpunkt. In der Handlung folgt sie auf die zweite Textepisode – die letzte Tanzstunde von der Lateinischen Schule im Dezember des vorherigen Jahres – die in der Ausrichtung eines kleinen Balls endete. Nach dem Auftauchen ihres Vaters war Lore jedoch mitten im Ballgeschehen gegangen. Obwohl der Ball weiterhin im vollen Gange war und überall getanzt wurde, ist Philipp der Abend ohne Lore so sehr verleidet worden, dass er sich ebenfalls unverzüglich auf den Weg nach Hause machte. Seitdem haben sich Philipp und Lore weder gesprochen noch gesehen.
Im Januar beschließt Philipp Schlittschuhlaufen zu gehen:
,,Neujahr war vorüber. Schon längst hatte ich mit der glatten Stahlsohle meiner holländischen Schlittschuhe geliebäugelt, nicht ohne eine kleine Verachtung gegen meine Kameraden, welche sich noch der hergebrachten scharfkantigen Eisen zu bedienen pflegten. Aber erst jetzt war ein dauernder Frost eingetreten.
Es war an einem Sonntagnachmittage; über dem Mühlenteich, einem mittelgroßen Landsee unweit der Stadt, lag ein glänzender Eisspiegel. Die halbe Einwohnerschaft versammelte sich draußen in der frischen Winterluft; von alt und jung, auf zweien und auf einem Schlittschuh, sogar auf einem untergebundenen Kalbsknöchlein wurde die edle Kunst des Eislaufs geübt. – In der Nähe des Ufers waren Zelte aufgeschlagen, daneben auf dem Lande über flackerndem Feuer dampften die Kessel, mit deren Hilfe allerlei wärmendes Getränk verabreicht wurde. Hie und da sah man einen Schiebeschlitten, in dem einen eingehüllte Mädchengestalt saß, aus dem Gewühl auf die freie Fläche hinausschießen; aber alle hielten sich am Rande des Sees; die Mitte mochte noch nicht geheuer scheinen.
Ich schnallte meine Stahlschuhe unter und machte einen einsamen Lauf an dem Ufer entlang.“
Während seiner Schlittschuhfahrt bemerkt Philipp zwei Gruppen an jungen Menschen, die durch ihre Standeszugehörigkeit voneinander getrennt werden: Die hochbürgerlichen Jugendlichen der Lateinischen Tanzschule aus den kaufmännischen sowie gelehrten Familien und die kleinbürgerlichen Jugendlichen aus den Handwerker-Familien samt denen aus der Arbeiterschicht. Im Kreis der zweiten Gruppe befindet sich auch Lore, die als nächstes von den dort anwesenden Mädchen von Barthel – dem Lehrling eines Haustischlers – auf einem leichten Schiebeschlitten sitzend über die Eisfläche des Sees gefahren werden soll.
Durch einen schnell gefassten Wunsch und eine daran anschließende List übernimmt Philipp jedoch während Lores Schlittenfahrt Barthels Position, ohne dass diese es bemerkt. An diesen Fahrerwechsel klingt die eindrückliche Szenenbeschreibung dieser nun einmaligen gemeinsamen Schlittenfahrt an:
,,Ich hätte aufjauchzen mögen; aber ich biß die Zähne zusammen; und fort wie auf Flügeln schoß das leichte Gefährt über die glänzende Eisfläche.
»Barthel, du fliegst ja!« sagte Lore.
Ich hielt ein wenig inne; ich fürchtete, mich verraten zu haben, und suchte, so gut es gehen wollte, das Scharren von Barthels rostigen Schlittschuhen nachzuahmen. Aber meine Besorgnis war unnötig. Lore steckte ihre Hände tiefer in den Muff und lehnte sich behaglich zurück, so daß das Pelzkäppchen fast auf meinem Arm ruhte. »Nur immer zu, Barthel!« sagte sie. Und Barthel ließ sich das nicht zweimal sagen.“
Fortsetzung folgt.
~ Judith Windel